Hochsensibel, verkappter Autist oder nur schüchtern? Über das Wesen des introvertierten Mannes…

Oct 16, 2020 | Psychologie & Wissenschaft

STILLE WASSER SIND ATTRAKTIV. DOCH WAS STECKT GENAU DAHINTER?

Gemeint ist der stille See, von dem man nicht ahnt, wie tief er doch sein kann. Dabei können auch tiefe Gewässer, selbst bei ruhiger und glatter Oberfläche, starke Strömungen und Turbulenzen entwickeln, die man nicht vermutet.

Auf den Introvertierten bezogen heißt es, dass er wahrlich oft unterschätzt wird. Sei es im Beruf oder beim Dating – Der Extrovertierte drängt sich unbewusst mit seinen Merkmalen in den Vordergrund, weshalb eher stille Persönlichkeiten unbemerkt im Hintergrund agieren.

Dabei besitzen gerade die ruhigen und zurückhaltenden Menschen eine Menge (auch körperlich anziehende) Qualitäten.

Sie sind meist viel fokussierter, bedachter, strukturierter, substanzieller, risikobewusster und besonders talentiert, wenn sie ihre Passion erst einmal gefunden haben. Nicht selten sind Introvertierte jene Menschen, die gerne drei Schritte voraus denken.

(Definition: Die zwei gegensätzlichen Persönlichkeitstypen Introversion und Extraversion wurden vom bekannten Tiefenpsychologe C. G. Jung geprägt. Unter Introversion verstehen wir eine nach innen gewandte Haltung, während Extraversion eine nach außen gewandte Haltung beschreibt. Introvertierte Charaktere neigen in Gruppen eher zum passiven Beobachten als zum Handeln und werden häufig als still, zurückhaltend und ruhig beschrieben. Sie laden in aller Stille ihre “Akkus” auf, während extrovertierte Menschen den Impuls von außen brauchen, um Kraft zu gewinnen.)

Nach wie vor leben wir in einer lauten und schrillen Gesellschaft, in der die nach außen gerichtete Wesensart, auf den ersten Blick, als kompetenter und interessanter wahrgenommen wird. Nicht selten werden Introvertierte hierdurch benachteiligt behandelt, wie wenn es um die Bezahlung oder Position im Beruf geht oder eben beim Frauenkennenlernen auf einer Party.

Daher ist es nicht verwunderlich, wenn der Mann zu der Annahme kommt, die Frauenwelt würde ausschließlich extrovertierte Männer bevorzugen.

Wir Frauen kommen vermutlich mehr mit extrovertierten Männern in Kontakt. Ebenso könnten sich romantische Anbandlungen schneller entwickeln, wenn der Mann Annäherungsversuche weniger scheut und diese statistisch gesehen öfter angeht.

Doch all dies bedeutet noch lange nicht, dass wir Frauen keine Vorliebe für introvertierte Männer entwickeln.

DAS TEMPERAMENT DER INTROVERTIERTEN

In der Psychologie beschreibt das Temperament den angeborenen Ausdruck individueller Persönlichkeit, in seiner menschlichen Stimmung, Reaktion, Antrieb und Aktivität – die sich in Form von Gefühlen, Willensbildung und Triebleben äußern. Tatsächlich ist das Temperament der Persönlichkeitsfaktor, der sich am frühesten zeigt.

In unserem alltäglichen Sprachgebrauch kennen wir Sinnbilder vom “feurigen” oder eher “kühlen” Temperament. Ein feuriges Temperament schreiben wir lebendigen Persönlichkeiten zu und denken hier vielleicht an den stürmischen Latino. Ein eher kühles Temperament verbinden wir mit reservierten und vielleicht auch geheimnisvollen Persönlichkeiten. James Bond könnte an dieser Stelle zu jener Gruppe angesehen werden.

Wissenschaftliche Forschungen ergaben, dass diese Temperamente nicht durch Umwelteinflüsse, wie unsere Erziehung erzeugt werden, sondern festgelegte, genetische Persönlichkeitsmerkmale sind, die nur durch die Umwelt noch bestärkt werden können. Der deutsche Jens Asendorp beispielsweise stellte durch eine Studie heraus, dass solche Persönlichkeitseigenschaften in unserem Leben die meiste Zeit stabil erhalten bleiben und sich unser Temperament kaum verändern lässt*. De Fakto: Wir werden demnach immer diese angeborene Neigung haben, obwohl wir uns Mittel aneignen können, um den Ausdruck unseres Temperaments zu bestärken oder zu verringern.

Doch gibt es “gute” und “schlechte” Temperamente?

Dass wir Menschen uns in unserem Wesen unterscheiden hat auf vielen Ebenen einen tiefgreifenden Sinn. Stell Dir einmal vor, jeder von uns würde dem ruhigen und zurückhaltenden Typus entsprechen. Auf dem ersten Blick, klingt die Vorstellung vielleicht verlockend. Doch dann stellt sich die Frage, der Entwicklung und Vielfalt unseres Lebens. Wir können nur voneinander lernen und uns inspirieren lassen, wenn wir uns unterscheiden – in unserer Art, in unserer Denkweise und demnach auch in unserem Temperament. Jede Persönlichkeit bringt mit ihrem individuellen Temperament bestimmte Vorzüge mit sich.

Auch evolutionsbiologisch sind die Unterschiede sinnvoll.

Die amerikanische Psychologin und Autorin Elaine Aron erforschte das Vorhandensein der beiden Temperamente (risikofreudige Bewegungstypen, die sie “Rover” nannte und abwartende Vorsichtige, denen sie den Namen “Sitter” gab) in der Natur unter Lebewesen*. Dabei stellt der eher risikofreudige Typus rund 80 Prozent, die Vorsichtigen entsprechend eher 20 Prozent.

Dass es verschiedene Temperamente gibt, macht aus evolutionsbiologischer Perspektive übrigens durchaus Sinn: Die beiden Temperamente werden letztlich so organisiert, dass auf lange Sicht der Arterhalt gesichert wird.

Auf die Menschheit bezogen heißt das: Wir brauchen auch die vorsichtigen, eher nachdenklichen Menschen, denn sie tragen ebenfalls zu unserem Überleben als Menschheit bei.

Lass etwas kurz etwas hineinzoomen und etwas tiefer in die Welt der stillen Persönlichkeit eintauchen.

Wenn es um Introversion geht, scheint es immer wieder zu Missverständnissen unter den einzelnen Begrifflichkeiten zu kommen.

WAS BEDEUTET INTROVERTIERT?

INTROVERSION UND SCHÜCHTERNHEIT

Schüchterne Menschen sind perse nicht introvertiert. Schüchternheit ist lediglich ein erlerntes Verhalten, welches sich auf die Angst vor sozialer Zurückweisung bezieht. Eine schüchterne Person kann mit der Zeit introvertiert wirken, ohne es wirklich zu sein. Denn der Introvertierte wünscht sich das Alleine-Sein, um Energie zu tanken, während der Schüchterne gerne weniger alleine wäre, sich jedoch durch Ängste blockiert.

INTROVERSION UND HOCHSENSIBILITÄT

Die Hochsensibilität, ein Begriff der in den 90ern von der Psycho­login Elaine Aron geprägt wurde und immer mehr in den Vordergrund gerät. Auch wenn die Hochsensibilität bisher ein wenig erforschtes Feld der Psychologie darstellt, lassen sich unter den Merkmalen Hochsensibler einige Parallelen zur Introversion aufweisen.

  • Hochsensible reagieren sehr schnell und empfindlich auf äußere und innere Reize, wie bestimmte Geräusche, Gerüche oder auch visuelle Elemente. Das erklärt auch, weshalb sie laute Menschenmassen als unangenehm wahrnehmen, reizintensive Momente vermeiden und ihnen vieles, einfach schnell “zu viel” wird.
  • Hochsensible Menschen sind grundsätzlich emotionaler und verarbeiten Reize tiefer, wodurch die Emotionen länger nachschwingen. Das bedeutet, Hochsensible können sich schneller gekränkt oder traurig fühlen. Auf der anderen Seite, können sie bestimmte Erfahrungen mehr genießen, wie einen schlichten Spaziergang in der Natur. Sie brauchen demnach nicht viel, um sich glücklich zu fühlen.
  • Hochsensible nehmen mehr wahr und verarbeiten zeitgleich Informationen gründlicher. Sie beschäftigen sich intensiv mit dem Sinn des Lebens und reflektieren sich und ihr Handeln meist sehr tief. Wir können davon ausgehen, dass ihre Beschäftigung mit Werten und Normen viel dazu beiträgt, wie die Gesellschaft sich insgesamt entwickelt.
  • Hochsensible speichern Informationen in ihrem Gehirn sehr tief und komplex ab. Das trägt dazu bei, dass sie im Schnitt einen reflektierteren und oft auch empathischeren Umgang it anderen Menschen pflegen. Sie haben einen guten Zugang zu Emotionen, was sie in der Regel zu einfühlsamen Gesprächspartnern macht, die sich gut in andere hineinversetzen können.

 

Wie man sieht, gibt es eine Reihe von Überschneidungen zwischen der Definition von Hochsensibilität und Introversion. Dennoch wäre es falsch nun anzunehmen, dass sich die beiden Begriffe decken. Tatsächlich gelten rund 30 Prozent der Hochsensiblen als extravertiert. Zudem ist Hochsensibilität weniger ein psychologisches Thema, sondern ist mehr im neurologischen Bereich angesiedelt. In der Forschung spricht man daher auch eher von “neuronaler Sensitivität”. 

INTROVERSION UND HOCHBEGABUNG

Interessanterweise stellen Introvertierte bei Menschen mit einem hohen IQ von über 160 mit 75 Prozent die Mehrheit. Im Umkehrschluss könnte man also behaupten: Je intelligenter jemand ist, desto höher die Wahrscheinlichkeit, introvertiert zu sein.

Manchmal führt das dann allerdings dazu, dass das Umfeld gar nicht bemerkt, welches Potenzial die hochbegabte Person eigentlich hat. Hochbegabte haben im Laufe ihrer Sozialisation häufig gelernt, dass sie durch ihre Intelligenz zum Außenseiter werden – und halten sich daher schon aus diesem Grund oft zurück. Sie leiden zudem gar nicht mal so selten unter einem schlechten Selbstbild und haben nie gelernt, in positiver Weise auf sich und ihre Fähigkeiten aufmerksam zu machen.

INTROVERSION UND AUTISMUS

Autisten haben eine Entwicklungsstörung, die angeboren ist und sich stark auf das Sozialverhalten auswirkt. Oft haben sie Probleme, sich sprachlich auszudrücken, können Körpersprache nicht richtig deuten und haben ganz allgemein Schwierigkeiten bei sozialen Interaktionen.

Auch Menschen mit dem Asperger-Syndrom, einer zumeist schwächeren Ausprägung von Autismus, neigen oft zu größerer Zurückhaltung, gehen selten von sich aus auf andere Menschen zu und zeigen ihre Emotionen wenig. Sie sind insgesamt meist nicht sehr gesellig und vermeiden den Kontakt mit größeren Gruppen, weil sie sich dort in der Regel äußerst unwohl fühlen.

Zudem leiden Autisten oft zusätzlich unter stärkeren Ängsten und Unsicherheiten als andere, sie sind eher stressanfällig und tendieren darüber hinaus zu eher negativen Emotionen.

Allerdings bedeutet das nun nicht, dass Introvertierte verkappte Autisten wären, auch wenn manche Eigenschaften sich überschneiden. Tatsächlich ist nur ein sehr geringer Anteil der Introvertierten auch autistisch veranlagt.

INTROVERSION UND ALEXITHYMIE

Von Alexithymie haben wahrscheinlich die wenigsten bisher gehört. Mit dieser Wortschöpfung wird ein Phänomen beschrieben, das sich auf die Unfähigkeit bezieht, Gefühle auszudrücken. Vor allem Männer werden dann von ihrer Umwelt häufig als “gefühlskalt” gesehen. Tatsächlich haben sie Gefühle, doch sie haben nie gelernt, ihnen angemessen Ausdruck zu verleihen.

Deshalb wirken sie auf andere oft introvertiert. Sie legen Wert darauf, ihr Denken und Verhalten nach streng logischen und rationalen Kriterien zu gestalten.

Oft sind sie beruflich besonders erfolgreich, weil sie klare Strukturen lieben und Strategien gezielt abarbeiten. Mit Veränderungen kommen sie allerdings weniger gut zurecht.

Alexithymie ist also eher ein erworbenes Verhalten und liegt nicht in der Persönlichkeitsstruktur begründet – und das bedeutet, es lässt sich verändern. Sowohl Introvertierte als auch Extravertierte können unter Alexithymie leiden.

Weil dieses “gefühlsreduzierte” Verhalten sich beim Dating und in der Partnerschaft nicht unbedingt positiv auswirkt, gibt es jedoch sinnvolle Methoden, um sich Schrittweise attraktive Verhaltensweisen anzueignen.

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Susanne Barons

Gründerin von Logisch. Charmant, Mentorin, Alice im Wunderland und Nerd zugleich, wenn es um die menschliche Psyche geht. Die große Vorliebe liegt hier bei den wissenschaftlichen Hintergründen, vor allem aus den Bereichen der aktuellen Hirnforschung, Psychologie und kulturübergreifende Faktoren.

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